Karin N. wurde von ihrem am 15.07.2014 verstorbenen Vater als Alleinerbin eingesetzt. Der Vater hatte zwei Kinder. Da mit dem Sohn jedoch seit 15 Jahren kein Kontakt mehr bestand, hatte er sich entschieden, dass seine Tochter Alleinerbin wird und sein Sohn deshalb nur den Pflichtteilt verlangen kann.
Zu dem Nachlass gehörte unter anderem ein Haus, das augenscheinlich in einem guten Zustand war. Der Sohn Peter K. machte unmittelbar, nachdem er von der Erbeinsetzung seiner Schwester Kenntnis hatte, bei ihr seinen Pflichtteil geltend. Daraufhin ließ Karin N. das Haus, welches sie geerbt hatte, von einem Gutachter schätzen. Zu dem Zeitpunkt, als der Gutachter das Haus besichtigte, war das Haus noch mit Möbeln vollgestellt. So blieben ihm offensichtlich erhebliche Mängel in der Souterrain-Wohnung des Objektes verborgen. Er schätzte das Haus auf 264.000,00 Euro. Dieses Gutachten legte Karin N. ihrem Bruder vor. Rechnerisch würden Peter folglich alleine aus diesem Hauswert rund 66.000,00 Euro Pflichtteilsansprüche zustehen. Da Karin das Haus nicht behalten wollte, ließ sie es räumen und bot es direkt über eine Immobilienmaklerfirma auf dem freien Markt an. Es wurde vom Makler festgestellt, dass das Haus erhebliche Feuchtigkeitsschäden im Souterrain festgestellt hat.
Nach acht Monaten Verkaufsbemühungen gelang es dann, das Objekt für 208.000,00 Euro zu verkaufen; alle Interessenten hatten Karin N. bei genauer Besichtigung darauf hinwiesen, dass zur Beseitigung der Ursachen für die Feuchtigkeit alleine mindestens 30.000,00 Euro zu investieren seien und die Gartenanlage durch diese Arbeiten auch von außen erheblich leiden würde. Notgedrungen verkaufte sie das Haus zu diesem niedrigeren Preis. Sie erklärte Ihrem Bruder über ihren Anwalt, dass nicht der Gutachtenwert, sondern der tatsächliche Kaufpreis für die Pflichtteilsansprüche heranzuziehen sei. Für den Sohn Peter würde eine solche Reduzierung des Hauswertes eine beträchtliche Reduzierung seines Pflichtteilsanspruchs (um 17.500,00 Euro) nach sich ziehen. Deshalb war er nicht damit einverstanden. Solche Fälle, dass Gutachterbewertungen von tatsächlichen Kaufpreiserlösen deutlich abweichen, kommen immer wieder vor. Dies kann daran liegen, dass das Gutachten einen zu geringen Verkehrswert feststellt oder auch, wie im Falle von Karin N. einen zu hohen Verkehrswert. Wer hat Recht, Karin N. oder Peter K.?
Grundsätzlich ist für die Bemessung des Pflichtteilsanspruchs der Verkehrswert am Todestag maßgeblich. Aus diesem Grunde wird in der Regel auch ein Sachverständigengutachten zu diesem Bewertungsstichtag eingeholt. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der im Gutachten angesetzte Wert sich durch tatsächliche wesentliche Fakten dahingehend überholen kann, dass der tatsächliche Verkaufspreis in Ansatz zu bringen ist. Dieser spiegelt in der Regel den tatsächlichen Verkehrswert dar. Ein vom Gutachter festgestellter Verkehrswert ist immer nur eine statische Betrachtung, die durchaus sowohl nach oben als auch nach unten nicht unbeträchtlich abweichen kann. Wird folglich ein solches Objekt nach Eintritt des Erbfalls relativ zeitnah verkauft, kann der Verkaufserlös durchaus einen zuvor angenommenen Gutachterverkehrswert ersetzen.
Im konkreten Fall war schließlich auch nachzuvollziehen, weshalb der Verkaufspreis und damit auch der Wert des Objekts niedriger ausfiel als im Gutachten zuvor festgestellt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einer Entscheidung vom 08.04.2015 noch einmal darauf hingewiesen, dass der Pflichtteilsberechtigte wirtschaftlich so zu stellen ist, als sei der Nachlass bei Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden. Deshalb sei der Verkaufswert im Zeitpunkt des Erbfalls der „gemeine Wert“. Schätzungen seien immer mit Unsicherheiten verbunden. Wird der Verkauf in einem überschaubaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Erbfall vollzogen, kann also der tatsächliche Verkaufserlös ein wesentlicher Anhaltspunkt für den Wert eines verkauften Objektes sein. Der BGH hat sogar in den Raum gestellt, dass ein Zeitraum zwischen Erbfall und Veräußerungszeitpunkt von drei Jahren durchaus noch für die Wertbemessung relevant sein kann, soweit nicht wesentliche Tatsachen dagegen sprechen. Fällt wie im konkreten Fall, der Verkaufspreis niedriger als der Gutachterwert aus, ist der Pflichtteilsberechtigte nicht zwangsläufig auf den niedrigeren Preis zu verweisen, da ihm durchaus die Möglichkeit eingeräumt wird, mit guten Argumenten und gegebenenfalls einem eigenen Sachverständigengutachten zu belegen, dass der tatsächliche Kaufpreis wiederum nicht dem Wert entsprach, den das Objekt zum Zeitpunkt des Erbfalls hatte. Gründe hierfür sind vielfach denkbar, beispielsweise ein Gefälligkeitsverkauf oder Eintritt von Schäden nach dem Erbfall. Wird ein höherer Kaufpreis erzielt, kann es sich hier und da durchaus lohnen, dem nachzugehen, warum dies erfolgt ist. Werden werterhöhende Arbeiten vom Erben nach dem Erbfall vor dem Verkauf vorgenommen, bleiben diese natürlich unberücksichtigt.
Folglich konnte Karin N. im konkreten Fall zurecht den Pflichtteilsanspruch ihres Bruders Peter K. herabsetzen, da nicht mehr aus 264.000,00 Euro, sondern aus 208.000,00 Euro ermittelt wurde. In diesem Falle hatte Peter K. folglich das Nachsehen. Aus einer solchen Fallgestaltung kann man deutlich erkennen, wie wichtig es ist, dass sowohl der Erbe, gegen den Pflichtteilsansprüche geltend gemacht werden, wie aber auch der Pflichtteilsberechtigte, der seine Ansprüche durchsetzen will, sich der fachkundigen Hilfe erfahrener Fachanwälte für Erbrecht bedienen sollte, für die solche Besonderheiten im Erbfall zu ihrer Bearbeitungsroutine gehören.
Fachanwalt für Erbrecht Marwin H. Roth